„Ach“, sagte die Frau, „wenn ich keine Rapunzeln aus dem Garten hinter dem Haus kriege, so sterbe ich.“ Der Mann, der sie lieb hatte, machte sich also in der Abenddämmerung hinab, als er aber die Mauer herabgeklettert war, erschrak er gewaltig, denn er sah die Zauberin vor sich stehen. „Lasst Gnade für Recht ergehen“, sprach er, „meine Frau hat eure Rapunzeln aus dem Fenster erblickt und empfindet ein so großes Gelüsten, dass sie sterben würde, wenn sie nicht davon zu essen bekäme.“ Da ließ die Zauberin in ihrem Zorne nach. Und als die Frau in Wochen kam, erschien sogleich die Zauberin, gab dem Kinde den Namen Rapunzel und nahm es mit sich fort.
Deutung:
Rapunzel ist – der Name verrät es uns nur allzu deutlich – ein Kind der Erde – und diese Eigenschaft teilt sie mit allen Menschen der Welt. Kaum geboren erfährt sie jedoch ein besonderes Schicksal: Sie wird von einer Zauberin in deren Obhut genommen, diese will für das Kind sorgen wie eine Mutter.
– Die gefürchtete Zauberin – ist sie vielleicht gar nicht so böse, wie sie uns erscheint, sondern vielmehr ein Aspekt jener Schicksalsmacht, die unseren Lebensfaden in weisen Händen hält? Die uns aus dem Gewohnten, aus der Geborgenheit oftmals gegen unseren Willen hinaus stößt, damit wir uns entwickeln und verwandeln?
Mit 12 Jahren wird Rapunzel von ihr in einen hohen Turm ohne Tür und Treppe gesperrt. Dort verbringt es Jahre der Einsamkeit. Wer Kinder in diesem Alter hat oder sich an die eigene Pubertätszeit erinnert, dem kommt dieses „Eingesperrtsein im Turm“ vielleicht bekannt vor: In dieser Entwicklungsstufe verschließt sich der junge Mensch zunehmend und lässt niemanden wirklich an sich heran. Auch scheint er den Boden der Realität verloren zu haben und irgendwo zwischen Himmel und Erde „hoch oben im einsamen Turm“ zu leben. Aber gerade in der Stille dieser Abgeschlossenheit kann der heranwachsende Mensch erst sein eigenes Wesen ausbilden.
Und das dauert erfahrungsgemäß lange Jahre.
Solange Rapunzel also noch nicht reif genug ist, ihr Leben selbst zu ergreifen, liegt ihr Schicksal in fremden Händen, und fordert über ihre goldenen Haare immer wieder Zutritt zu ihr. In den Mythologien stehen die Haare seit jeher für die Verbindung des Menschen zum Kosmos. Das gilt ganz besonders dann, wenn diese auch noch golden sind. Es ist also eine Himmelsleiter, welche die Zauberin benützt.
Möglicherweise sind Rapunzels goldene Haare auch ganz allgemein Symbol für den edelsten Teil des Menschen, der unbemerkt vom wachen Bewusstsein, aber weisheitsvoll darüber entscheidet, wem Zugang ins eigene Innere gewährt wird.
Jahre vergehen – und schließlich muss das Schicksal in Person der Zauberin weichen. Die Begegnung mit einem geliebten Menschen – im Märchen ist es der Königsohn – lässt Rapunzel erwachsen werden und Verantwortung für ihr Leben übernehmen. Für eine Weile noch hat die Zauberin Gewalt über die Liebenden, aber sie kann schließlich nicht verhindern, dass die beiden nach vielen Prüfungen und Entbehrungen zueinander finden. So zeigt uns das Märchen auf eindrückliche Weise, wie das Schicksal überwunden werden kann – durch Tugenden wie Ausdauer, Treue, Geduld. Und dass es sich lohnt, seine Mutkräfte einzusetzen, um sein eigenes Leben in Freiheit und Liebe zu gestalten.