Es war einmal eine kleine süße Dirne, die hatte jedermann lieb, der sie nur ansah, am allerliebsten hatte sie aber ihre Großmutter, die wusste gar nicht, was sie dem Kinde alles geben sollte. Einmal schenkte sie ihm ein Käppchen von rotem Sammet, und weil ihm das so wohl stand und es nichts anderes mehr tragen wollte, hieß es nur das Rotkäppchen. Eines Tages sprach seine Mutter zu ihm „komm, Rotkäppchen, da hast du ein Stück Kuchen und eine Flasche Wein, bring das der Großmutter hinaus; sie ist krank und schwach und wird sich daran laben. Mach dich auf, bevor es heiß wird, und wenn du hinaus kommst, so geh hübsch sittsam und lauf nicht vom Weg ab, sonst fällst du und zerbrichst das Glas, und die Großmutter hat nichts. Und wenn du in ihre Stube kommst, so vergiss nicht, guten Morgen zu sagen, und guck nicht erst in alle Ecken herum.“ „Ich will schon alles gut machen,“ sagte Rotkäppchen zur Mutter, und gab ihr die Hand darauf. Die Großmutter aber wohnte draußen im Wald, eine halbe Stunde vom Dorf. Wie nun Rotkäppchen in den Wald kam, begegnete ihm der Wolf ….
Deutung: In diesem Märchen kann sich wohl mancher wie im Spiegel betrachten: Immer dann, wenn wir im Leben Neuland betreten, sind wir ähnlich unerfahren und nichtsahnend wie Rotkäppchen. Und all die Gefahren und Hindernisse, die am Weg auftauchen, schrecken uns deshalb nicht, weil wir sie nicht kennen. Erst hinterher meldet sich mitunter ein leises Erschrockensein – wie bei Rotkäppchen: „Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich diesen Weg wahrscheinlich nicht gegangen …“
Aber die Schicksalskräfte wollen uns nicht vernichten. Und wo Herausforderungen und Proben für uns liegen, sind helfende Hände auch nicht weit. Hier ist es der Jäger, der den schlafenden Wolf schnarchen hört, und rechtzeitig alles zum Guten wendet. So kann schließlich gemeinsam das fröhliche Fest einer bestandenen Prüfung gefeiert werden.